Neuer Lebensabschnitt. Punkt.
Wow, solche Momente sind im Leben selten. In denen man sich
mit voller Überzeugung selbst sagen kann: „Jetzt wird alles anders“. Und so ist
es. Am 30. April begann für mich eine halbjährige Rundreise durch Europa. Man
könnte sie auch als „unnützen Urlaub“ bezeichnen (wie einige Verwandten das
sehen) oder „Kulturreise“ (wie das meine späteren potentiellen Arbeitgeber
eventuell meinem Lebenslauf entnehmen können werden) oder „zielloses Herumirren
durch Europa“.
Wo die letztere Formulierung herstammen könnte? Nun,
sicherlich nicht von mir. Aber manche Bekannte waren teils etwas überrascht,
dass wir drei Monate vor der Reiseplanung noch immer keine genauen Angaben dazu
machen konnten, WANN wir WO sein würden. Glücklicherweise sind der liebe Kai –
mein Reisekumpane – und ich – ich – der gleichen Auffassung: man kann und darf
eine solche Reise nicht bis ins kleinste Detail vorausplanen. Der Weg ist das
Ziel und der Großteil der Dinge ergibt sich auf dem Weg.
So entschieden wir erst vor vielleicht zwei Monaten, dass
der Osten Europas unsere erste Himmelsrichtung sein wird, vor einem Monat, dass
wir als erste große Zwischenetappe das Donau-Delta in Rumänien ins Auge fassen
und kurz später, dass wir mit Polen beginnen werden. So wurde denn Stettin
(oder polnisch: Szczecin) zu unserem ersten Ziel auserkoren. Da sind wir also
am 30. April, unserem Abreisetag, hingefahren?
Denkste. Wie es sich für eine ordentliche Tour gehört, fiel
uns erst einmal ein gewaltiger Faux Pas auf: Kais Reisepass war nicht mehr
gültig, wodurch einige Länder (wie beispielsweise das EM-Land Ukraine) nicht
befahrbar waren. Was war also unser erstes Ziel? Das sagenumwobene, legendäre
und uns gänzlich unbekannte – Dresden! Zum Reisepass beantragen.
Die Reise in die Fremde begann also mit einer Reise ins
Vertraute. Welch Ironie. Doch ich trauere nicht, denn wir hatten einen sehr
schönen Abend an der Elbe. Wir grillten und gitarrierten bei schönstem
Frühsommer-Wetter und genossen die letzten Augenblicke in unserer studentischen
Heimat.
Vorbereitungsphase |
Kai und mein geliebter kleiner Bruder Erik, der uns beim Beladen helfen wollte |
Transport der Sachen aus der Umweltzone heraus (wie man gleich sieht haben wir wahrlich kein modernes und schon gar nicht umweltschonendes Fahrzeug) |
Kai und Erik beim Einladen der Sachen |
unser Renault |
Hit the Road, Kai, and don’t you come back – no more, no more, no more, no more… |
Hinweis: für die Dekorierung dieses Busses mussten keine Tiere leiden. Auch keine Zebras.Versprochen. |
Grillvorbereitungen an der Elbe |
Los!
Am nächsten Tag erledigten wir die letzten Einkäufe am
Neustädter Bahnhof. Viel war selbstverständlich nicht mehr zu holen, denn die
Sorge der jeweiligen Mütter (und Kais Schwester) hatte dazu geführt, dass wir
bereits mit sehr vielen Dingen sehr gut ausgestattet. Mal sehen, ob wir es
schaffen werden, die ganzen Leckereien binnen eines halben Jahres
aufzubrauchen!
Am Bahnhof wurden wir (mal wieder) Zeugen einer krassen
Demonstration des Obrigkeitsstaates. Es hatten sich vielleicht hundert Hanseln
versammelt, um für eine andere Form der Gesellschaft zu demonstrieren.
Anarchie-Fahnen wehten durch den Wind. Angesichts der etwa dreißig
Mannschaftswagen der Polizei, die alle voll besetzt waren und den gesamten
Platz umstellten, traute sich aber niemand laut zu skandieren. Muss es sein,
dass bei Demonstrationen die Polizisten die größten Teilnehmergruppen stellen?
Darf denn nicht offen und friedlich über eine andere Gesellschaft zumindest
geredet werden, solange diese einen zumindest humanistischen Denkansatz hat?
Der gesamte Platz war mit Polizeiwagen umstellt |
Danach fuhren wir in unsere Garage nach Ottendorf-Okrilla
(bei Dresden) um noch ein paar Sachen abzuladen. Mittlerweile steht in der
Garage Kais gesamter Fuhrpark: seine MZ, seine Simme und sein Trabbi. Nur
unseren Renault kann er dort nicht unterbringen. Und so etwas schimpft sich
armer Student! :D
unsere Garage |
Und dann ging es los. Der Start in eine neue Zeit. Adieu
Deutschland – hallo Polen! Nach einigen kurzen Telefonaten vor der Grenze
überquerten wir sie und kamen so von Görlitz nach Zorzelec. Wem es noch nicht
aufgefallen ist: es handelt sich um die gleiche Stadt! In Westpolen haben
sämtliche Städte sowohl einen deutschen als auch einen polnischen Namen. Das
liegt daran, dass – wie die meisten sicherlich wissen – Polen immer ein
Spielball der umliegenden Mächte war und dadurch von der Unabhängigkeit
regelmäßig in deutsche Abhängigkeit geriet, zuletzt unter der Herrschaft des
Dritten Reichs.
Die Straßen Polens waren teils nicht mehr als solche zu
bezeichnen. Anfangs fuhren wir über kleine Landstraßen, bei denen das Wort
„Buckelpiste“ wohl eher als Euphemismus zu werten sein dürfte. Vermutlich war
dies bereits ein Vorgeschmack auf spätere osteuropäische Erlebnisse. Einen gewissen
Humor kann man den Polen aber nicht absprechen – amüsante Verkehrsschilder, die
darauf hinweisen, dass zumindest LKWs nicht schneller als 60 km/h fahren
sollten, obwohl man sich schon bei 30 km/h wie ein Adrenalin-Junkie fühlte.
Obwohl… schon am nächsten Tag wurden wir von einigen besengten LKWisten
überholt, mit beträchtlichem Geschwindigkeitsunterschied. Aber unser lieber
Renault ist ja auch nicht mehr der jüngste! An Drag-Rennen sollten wir wohl
nicht teilnehmen…
Dadurch bewegten wir uns sehr langsam fort und waren
irgendwann todmüde. Selbstverständlich wollten wir der romantischen
Vagabunden-Vorstellung entsprechen und die erste Nacht an einem See zubringen,
mit der Gitarre und einigen Erfrischungsgetränken ausgestattet. Und am nächsten
Morgen schwimmt man dann eine Runde durch den See oder macht wenigstens eine
kleine Jogging-Tour.
Aus dem ersteren wurde nichts, weil wir den See nicht finden
konnten. Wir fuhren durch das Dorf Olobok, dass nach zehn Minuten immer noch
nicht durchquert war, obwohl wir erst einige Dutzend Häuser hinter uns gelassen
hatten. Jedes Haus war ein kleines (schönes) Farmhaus für sich mit einigen
anliegenden Feldern. Straßennamen gab es nicht, jedes Haus hatte nur eine
Nummer. Nach erfolgloser Suche fuhren wir auf einen Rastplatz an der Landstraße
zurück.
unser Rastplatz |
Aus dem zweiteren wurde auch nichts, weil ironischerweise
meine Gicht wieder einzog hielt und das nach fast zwei Jahren Abstinenz. Es
verstehe einer den Körper! Glücklicherweise war nach 36 Stunden weniger
Fleischkonsum wieder alles beim Alten.
Am 2. Mai fuhren wir weiter Richtung Stettin, um unseren
Bekannten David in seiner Erasmus-Stadt zu besuchen. Auf dem Weg dorthin gab es
ein großes Ereignis: wir nahmen unseren ersten Mitfahrer mit! Johnny R. – oder
auch polnisch: Jan – war ein etwa 55-jähriger, etwas schwerhöriger alter Pole,
den wir per Anhalter in den nächsten Ort mitnahmen. Sein Englisch war
erstaunlich gut. Dafür fand sich schnell eine Erklärung: er hatte 11 Jahre in
den USA gelebt und gearbeitet. Illegal! Dann wurde er ein halbes Jahr in den
Knast gesteckt, weil die Polizisten den von ihm überreichten polnischen Ausweis
unauffindbar verloren hatten.
Am Abend des 2. Mai kamen wir in Stettin an.
sehr gut geschrieben Marcus. Beim Tramper musste ich schmunzeln ;-)
AntwortenLöschen