Mittwoch, 16. Mai 2012

Riga


(09. Mai abends bis 11. Mai morgens)

… Riga erkunden!

Zusammenfassend werde ich den rückblickenden Kai sprechen lassen: „Also Riga hat mich im Vergleich zu Wilnius nicht so sehr beeindruckt. Nach Wilnius kann ich mir einen Wochenendausflug durchaus noch einmal vorstellen. Durchaus. Riga reicht erst einmal.“

Warum könnte er das gesagt haben? Nun, zum ersten sind die barocken Gebäude (siehe Fotos zur Universität) wahrhaft protzig-beeindruckend und verleihen der ganzen Stadt etwas sehr altes. Zum zweiten haben wir in Wilnius mehr mit Einheimischen zu tun gehabt. Das gibt einem einen anderen Blick auf die Stadt. Unsere Couchsurfing-Versuche blieben in Riga fruchtlos. Zum dritten hat Wilnius wunderschöne Natur mitten in der Stadt und zum vierten das alternative Viertel Uzupio.

Nun meine Sicht zu Riga. Die Stadt ist bekannt dafür, dass ungewöhnlich viele Gebäude Charakteristika des Jugendstils tragen. Die Free City Tour Leiterin nannte man das vor Ort „art nouveau“. Aufgekommen um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts ist dieser Architekturstil charakterisiert durch: geschwungene Linien, typische Dekorationen (Gargoyles, Masken) und allgemein Einfallsreichtum (Abwendung von den bis dahin geltenden Standards beim Gebäudebau). Unter anderem dafür wurde die Innenstadt Rigas auch zum UNESCO-Weltkulturerbe hinzugefügt.

typisches Jugendstil-Haus

Statue mit dem Stadtpark im Hintergrund

Der Jugendstil wurde unter anderem wesentlich von deutschen Architekten vorangetrieben, von denen mehrere in Riga tätig waren. Generell hat Riga eine starke Verbindung zur deutschen Kultur. Dies liegt daran, dass Riga schon im 13. Jahrhundert durch Ritter des Deutschen Ordens besiedelt, bedrängt und missioniert wurde. Diese haben die Geschicke der Stadt über Jahrhunderte beeinflusst. Auch heute noch gibt es einige Deutsche, die in Riga leben. Das Lettische scheint ein wenig verständlicher als das Litauische, weil im Stadtbild viel häufiger Wörter auftauchen, die man intuitiv versteht. Auch Informationstafeln sind teils auf Deutsch.
Ein Stück der Berliner Mauer

Eine Statue mit den Bremer Stadtmusikanten. Es handelt sich um ein Geschenk aus Deutschland. Die Tiere haben allesamt verwirrte Gesichter, da sie die Menschen symbolisieren, die 1991 das erste Mal durch den eisernen Vorhang sahen.

Original Ratinger Däumlinge – täglich frisch bei Oetzbach. Im gesamten ehemaligen Ostblock sieht man des Öfteren Autos herumfahren, die in Deutschland vermutlich ausgemustert/verkauft wurden. So haben wir auch schon auf Deutsch bedruckte „Feuerwehr“-Autos gesehen.

Bemerkenswert ist das demographische Stadtbild in Riga. Nur 40%(!) der Bewohner sind Letten; einen ebenso großen Anteil stellen Russen. Der Rest verteilt sich großzügig auf Polen, Weißrussen und sonstige Bewohner. Führt das zu sozialen Spannungen? Und ob! Die Letten beschweren sich darüber, dass sich die Russen nicht integrieren. Viele Russen in zweiter und dritter Generation können kaum oder gar kein Lettisch, weil sie der Meinung seien, Lettisch wäre nur eine minderwertige Sprache. Man sollte dazu wissen, dass Lettland seit dem 13. Jahrhundert fast durchgängig von anderen Ländern besetzt war. Da die Besatzungsmacht in den letzten Jahrhunderten das russische Reich war, wird Lettland insgeheim noch immer als russischer Privatbesitz betrachtet. Nationalistische Details wie eine eigene Sprache sind da nur hinderlich. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es des Öfteren Referenden, ob Russisch als zweite Amtssprache eingeführt werden solle. Unsere Stadtführerin sagte mit vor Stolz geschwellter Brust, dass weltweit alle Letten in die Botschaften gerannt wären, um entschieden nein zu stimmen. Dementsprechend waren auch die jeweiligen Ergebnisse der Referenden.

Russisch ist allgegenwärtig. Viele Letten, die wir nach dem Weg fragten, beratschlagten sich auf Russisch, und antworteten dann auf solidem Englisch. Man kann die Stadt als geteilt betrachten – geteilt in einen sehr schicken, fast protzigen lettischen Teil und einen teils runtergekommen russischen. Unsere Reiseleiterin warnte uns eindringlich davor, nach Einbruch der Dunkelheit ins russische Viertel zu gehen. Dieses gegenseitige Misstrauen und Integrationsproblem war beeindruckend.

Ein von Letten gehasstes russisches Protz-Gebäude (ehemals Hotel), das sich im russischen Teil der Stadt befindet.

Straße im russischen Viertel

Schönes Holzhaus

Der bekannte Centrums Marktplatz, der auf vielen Hunderten Quadratmetern und in einer Handvoll von Gebäuden, die zum Teil ehemals Zeppelin-Hangare waren, hauptsächlich Lebensmittel anbietet.
 

Zuallerletzt: In Riga war abends viel los. In der ersten Nacht irrten wir ein wenig durch die hell erleuchteten Straßen, um uns letztlich in einem viel zu teuren Viertel ein Bier zu bestellen. Man bekam den Eindruck, dass die meisten Leute um einen herum einen Stock zum Abendbrot gegessen hatten. Zumindest war es ein sehr feines Gebiet.




Es gab aber ebenso andere Ecken, die wir in der zweiten Nacht entdeckten. Die Straßen waren (im Gegensatz zu Wilnius) auch wochentags mit Jugendlichen gefüllt. Wir befanden uns in einer kleinen Bar, in der eine Band ein ruhiges Konzert gab. Ich vernahm von der Theke her ein „Bitte“ und ein paar weitere Deutsch-ähnliche Fetzen. Wir sprachen die beiden an und es stellte sich heraus, dass wir zwei Weltenbummlern gegenüberstanden. Marc und René aus dem Ruhrpott. Sie hatten eine uns vergleichbare Strecke hinter sich, mit dem Unterschied, dass sie hauptsächlich per Bus, per Flugzeug und per pedes unterwegs gewesen waren. Mit Ende 20 hatten die beiden Freunde ihren jeweiligen Job gekündigt (KFZ-Mechaniker und Wirtschaftsingenieur), ihre Habseligkeiten verkauften (Autos etc.) und sich noch einmal auf eine große Reise begeben. Nicht, „um sich selbst zu finden“, sondern einfach, um noch einmal die Unabhängigkeit des Lebens zu genießen. Um ein letztes Mal aus den vertrauten Strukturen auszubrechen, um dann voller Freude wieder in das Zuhause zurückzukehren. Um einfach mal auf die Landkarte zu tippen und zu sagen „da will ich hin“. Um Erfahrungen zu machen, die man zu Hause einfach nicht macht. „Um frei zu sein.“

Ich sehe da sehr starke Parallelen. Abgesehen von den Fortbewegungsmitteln, der Zeitdauer (insgesamt 12 Monate) und den Kontinenten (alle) war ihre Tour der unseren sehr ähnlich. Und erst als die beiden IHRE Geschichte erzählten, verstand ich in der ganzen Klarheit UNSERE. Die eigene Geschichte klingt in den eigenen Ohren nach einer Weile eher uninteressant. Schließlich wird jedes Leben irgendwann ein wenig zur Routine. Auch wenn das unsere aktuell sehr abwechslungsreich ist. Nichtsdestotrotz wiederholen sich Tagesabläufe. Wenn man sich mit anderen Reisenden unterhält, so führen diese einem jedoch die Einzigartigkeit des Trips vor Augen.

Durch die Schilderung von René und Marc spürte ich wieder dieses Gefühl… dieses Gefühl der Freiheit, das mich seit Beginn der Reiseplanung immer wieder begleitet hat. Es ist ein schönes Gefühl! Und es lässt kaum nach. Ihr nächsten 5 Monate – ich komme!

Und noch ein paar Fotos:
Unsere Bleibe. Naja… schön wär’s

Blick über den Fluss. Seht ihr den Eiffelturm im Hintergrund?

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