Donnerstag, 3. Mai 2012

Abfahrt!


Neuer Lebensabschnitt. Punkt.

Wow, solche Momente sind im Leben selten. In denen man sich mit voller Überzeugung selbst sagen kann: „Jetzt wird alles anders“. Und so ist es. Am 30. April begann für mich eine halbjährige Rundreise durch Europa. Man könnte sie auch als „unnützen Urlaub“ bezeichnen (wie einige Verwandten das sehen) oder „Kulturreise“ (wie das meine späteren potentiellen Arbeitgeber eventuell meinem Lebenslauf entnehmen können werden) oder „zielloses Herumirren durch Europa“.

Wo die letztere Formulierung herstammen könnte? Nun, sicherlich nicht von mir. Aber manche Bekannte waren teils etwas überrascht, dass wir drei Monate vor der Reiseplanung noch immer keine genauen Angaben dazu machen konnten, WANN wir WO sein würden. Glücklicherweise sind der liebe Kai – mein Reisekumpane – und ich – ich – der gleichen Auffassung: man kann und darf eine solche Reise nicht bis ins kleinste Detail vorausplanen. Der Weg ist das Ziel und der Großteil der Dinge ergibt sich auf dem Weg.
So entschieden wir erst vor vielleicht zwei Monaten, dass der Osten Europas unsere erste Himmelsrichtung sein wird, vor einem Monat, dass wir als erste große Zwischenetappe das Donau-Delta in Rumänien ins Auge fassen und kurz später, dass wir mit Polen beginnen werden. So wurde denn Stettin (oder polnisch: Szczecin) zu unserem ersten Ziel auserkoren. Da sind wir also am 30. April, unserem Abreisetag, hingefahren?

Denkste. Wie es sich für eine ordentliche Tour gehört, fiel uns erst einmal ein gewaltiger Faux Pas auf: Kais Reisepass war nicht mehr gültig, wodurch einige Länder (wie beispielsweise das EM-Land Ukraine) nicht befahrbar waren. Was war also unser erstes Ziel? Das sagenumwobene, legendäre und uns gänzlich unbekannte – Dresden! Zum Reisepass beantragen.

Die Reise in die Fremde begann also mit einer Reise ins Vertraute. Welch Ironie. Doch ich trauere nicht, denn wir hatten einen sehr schönen Abend an der Elbe. Wir grillten und gitarrierten bei schönstem Frühsommer-Wetter und genossen die letzten Augenblicke in unserer studentischen Heimat.
Vorbereitungsphase

Kai und mein geliebter kleiner Bruder Erik, der uns beim Beladen helfen wollte

Transport der Sachen aus der Umweltzone heraus (wie man gleich sieht haben wir wahrlich kein modernes und schon gar nicht umweltschonendes Fahrzeug)

Kai und Erik beim Einladen der Sachen

unser Renault

Hit the Road, Kai, and don’t you come back – no more, no more, no more, no more…

Hinweis: für die Dekorierung dieses Busses mussten keine Tiere leiden. Auch keine Zebras.Versprochen.

Grillvorbereitungen an der Elbe


So verbrachte ich also meine letzten Stunden in meiner alten Studentenstadt. Nachdenklich betrachtet man in der Nacht die wunderschöne Elbansicht mit den fantastisch ausgeleuchteten Gebäuden der Dresdner Altstadt und sinniert über viele Dinge. Was lasse ich zurück? Was gewinne ich? Auf welche Wege wird mich die Reise führen? Trotz leichter Melancholie ob des Aufbruchs, war ich so bereit wie eh und je, die Reise zu starten. Schon seit Jahren dachte ich darüber nach, dieses Wagnis und Abenteuer zu beginnen und jetzt endlich war es soweit.

Los!

Am nächsten Tag erledigten wir die letzten Einkäufe am Neustädter Bahnhof. Viel war selbstverständlich nicht mehr zu holen, denn die Sorge der jeweiligen Mütter (und Kais Schwester) hatte dazu geführt, dass wir bereits mit sehr vielen Dingen sehr gut ausgestattet. Mal sehen, ob wir es schaffen werden, die ganzen Leckereien binnen eines halben Jahres aufzubrauchen!

Am Bahnhof wurden wir (mal wieder) Zeugen einer krassen Demonstration des Obrigkeitsstaates. Es hatten sich vielleicht hundert Hanseln versammelt, um für eine andere Form der Gesellschaft zu demonstrieren. Anarchie-Fahnen wehten durch den Wind. Angesichts der etwa dreißig Mannschaftswagen der Polizei, die alle voll besetzt waren und den gesamten Platz umstellten, traute sich aber niemand laut zu skandieren. Muss es sein, dass bei Demonstrationen die Polizisten die größten Teilnehmergruppen stellen? Darf denn nicht offen und friedlich über eine andere Gesellschaft zumindest geredet werden, solange diese einen zumindest humanistischen Denkansatz hat?
Der gesamte Platz war mit Polizeiwagen umstellt

Danach fuhren wir in unsere Garage nach Ottendorf-Okrilla (bei Dresden) um noch ein paar Sachen abzuladen. Mittlerweile steht in der Garage Kais gesamter Fuhrpark: seine MZ, seine Simme und sein Trabbi. Nur unseren Renault kann er dort nicht unterbringen. Und so etwas schimpft sich armer Student! :D

unsere Garage


Und dann ging es los. Der Start in eine neue Zeit. Adieu Deutschland – hallo Polen! Nach einigen kurzen Telefonaten vor der Grenze überquerten wir sie und kamen so von Görlitz nach Zorzelec. Wem es noch nicht aufgefallen ist: es handelt sich um die gleiche Stadt! In Westpolen haben sämtliche Städte sowohl einen deutschen als auch einen polnischen Namen. Das liegt daran, dass – wie die meisten sicherlich wissen – Polen immer ein Spielball der umliegenden Mächte war und dadurch von der Unabhängigkeit regelmäßig in deutsche Abhängigkeit geriet, zuletzt unter der Herrschaft des Dritten Reichs.

Die Straßen Polens waren teils nicht mehr als solche zu bezeichnen. Anfangs fuhren wir über kleine Landstraßen, bei denen das Wort „Buckelpiste“ wohl eher als Euphemismus zu werten sein dürfte. Vermutlich war dies bereits ein Vorgeschmack auf spätere osteuropäische Erlebnisse. Einen gewissen Humor kann man den Polen aber nicht absprechen – amüsante Verkehrsschilder, die darauf hinweisen, dass zumindest LKWs nicht schneller als 60 km/h fahren sollten, obwohl man sich schon bei 30 km/h wie ein Adrenalin-Junkie fühlte. Obwohl… schon am nächsten Tag wurden wir von einigen besengten LKWisten überholt, mit beträchtlichem Geschwindigkeitsunterschied. Aber unser lieber Renault ist ja auch nicht mehr der jüngste! An Drag-Rennen sollten wir wohl nicht teilnehmen…

Dadurch bewegten wir uns sehr langsam fort und waren irgendwann todmüde. Selbstverständlich wollten wir der romantischen Vagabunden-Vorstellung entsprechen und die erste Nacht an einem See zubringen, mit der Gitarre und einigen Erfrischungsgetränken ausgestattet. Und am nächsten Morgen schwimmt man dann eine Runde durch den See oder macht wenigstens eine kleine Jogging-Tour.

Aus dem ersteren wurde nichts, weil wir den See nicht finden konnten. Wir fuhren durch das Dorf Olobok, dass nach zehn Minuten immer noch nicht durchquert war, obwohl wir erst einige Dutzend Häuser hinter uns gelassen hatten. Jedes Haus war ein kleines (schönes) Farmhaus für sich mit einigen anliegenden Feldern. Straßennamen gab es nicht, jedes Haus hatte nur eine Nummer. Nach erfolgloser Suche fuhren wir auf einen Rastplatz an der Landstraße zurück.

unser Rastplatz

Aus dem zweiteren wurde auch nichts, weil ironischerweise meine Gicht wieder einzog hielt und das nach fast zwei Jahren Abstinenz. Es verstehe einer den Körper! Glücklicherweise war nach 36 Stunden weniger Fleischkonsum wieder alles beim Alten.

Am 2. Mai fuhren wir weiter Richtung Stettin, um unseren Bekannten David in seiner Erasmus-Stadt zu besuchen. Auf dem Weg dorthin gab es ein großes Ereignis: wir nahmen unseren ersten Mitfahrer mit! Johnny R. – oder auch polnisch: Jan – war ein etwa 55-jähriger, etwas schwerhöriger alter Pole, den wir per Anhalter in den nächsten Ort mitnahmen. Sein Englisch war erstaunlich gut. Dafür fand sich schnell eine Erklärung: er hatte 11 Jahre in den USA gelebt und gearbeitet. Illegal! Dann wurde er ein halbes Jahr in den Knast gesteckt, weil die Polizisten den von ihm überreichten polnischen Ausweis unauffindbar verloren hatten.

Am Abend des 2. Mai kamen wir in Stettin an.

1 Kommentar:

  1. sehr gut geschrieben Marcus. Beim Tramper musste ich schmunzeln ;-)

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