Donnerstag, 10. Mai 2012

Wolfsschanze

06. Mai abends bis 07. Mai morgens

Spontaneität ist bei einer Tour wie der unseren eine essentielle Zutat. Der Abend neigte sich dem
Ende entgegen und Kai und ich fuhren durch die schöne Landschaft der Masuren, die eines der
Haupt-Tourismus-Gebiete sind. Die Masuren bilden die größte Seenplatte südlich der Ostsee und
sind damit noch einmal ein ganzes bisserl größer als die Mecklenburgische. Und tatsächlich – die
Anzahl der blauen Flecken auf unserer „Autokarte Polen“ war immens. Kein Wunder – insgesamt gibt
es hier viele Tausend Seen, davon mehr als 2000 mit einer Größe über einem Hektar.

Dementsprechend war unser abendliches Ziel – wie bei uns üblich – einen schönen See zu finden.
Dieser Plan wurde über den Haufen geworfen, weil Kai das Wörtchen „Wolfsschanze“ am
Straßenrand ausmachte. Ohne, dass wir es geplant gehabt hätten, kreuzte unser Weg einen
historisch sehr bedeutenden Ort. Die Wolfsschanze war eine der größten Bunkeranlagen des Dritten
Reiches während des Zweiten Weltkrieges und seit 1941 (Beginn der Offensive gegen die
Sowjetunion) der hauptsächliche Aufenthalt Hitlers.

Kurz entschlossen steuerte Kapitän Kai also nach Backbord, um in Erfahrung zu bringen, was ein
Eintritt koste. Letztlich stellte sich heraus, dass die gesamte Anlage rund um die Uhr zu besichtigen
sei und auch ein Campingplatz mit angeschlossen wäre. Da das Campen uns nur umgerechnet 2,50
Euro p. P. kosten sollte, stimmten wir eifrig zu, weil wir dann am nächsten Tag noch genug Zeit haben
würden, die Anlage zu besichtigen. Zudem hatten wir ein weiteres Mal den glücklichen Umstand, auf
den Luxus von sanitären Einrichtungen nicht verzichten zu müssen. Der niedrige Preis der Camping-
Anlage spiegelte sich jedoch in der rudimentären Ausstattung wider. Zudem waren wir die einzigen
Gäste!

Nach einem wohlschmeckenden Abendessen machten wir uns bei tiefster Dunkelheit auf das Gebiet
zu erkunden. Mit Taschenlampe und guten Augen bewaffnet, machten wir uns ans Ausfindigmachen
der Anlage. Sie führte mitten durch den Wald, da die Bunker-Gebäude quasi seit Januar 1945
unverändert vor sich hin vegetieren und allmählich von der Natur zurückerobert werden. Wir hatten
uns auf einen kurzen Streckenabschnitt eingestellt. Letztlich hangelten wir uns jedoch im dunklen
Wald von einem roten Wander-Zeichen zum nächsten. Diese zeigten die Strecke an.

Es hatte schon etwas sehr Mystisches, zwischen düsteren Stämmen hindurch immer wieder einmal
einen der gigantischen Betonklötze auszumachen. Sich auszumalen, dass hier vor 70 Jahren
Menschen lebten. Und ob es ein beklemmendes Gefühl für die russischen Soldaten an diesen
verlassenen Ruinen vorbei weiter Richtung Deutschland zu ziehen…hinter jeden dunklen Ecken einen
Soldaten vermutend? Die Bunker selbst waren vielfach zerfallen und in sich selbst
zusammengestürzt. Ich wäre gerne weiter in einen der Bunker hineingegangen, aber Kai hat sich von
den „Uwaga“-Schildern ablenken lassen, die über jedem Eingang angebracht waren. Uwaga heißt
übersetzt Achtung, da vor der Einsturzgefahr gewarnt werden musste. Aus Rücksicht hat sich
Höhlenforscher Marcus dann doch etwas zurückgehalten, was die Erkundung angeht. Der Rundgang
dauerte auch ohne solche Abstecher sicherlich etwa eine dreiviertel Stunde.

Am nächsten Morgen hängten wir uns frech an eine vielleicht 25-köpfige Reisegruppe an, die einen
sehr redegewandten alten polnischen „Reisebegleiter“ (das Wort Touristen-Führer wurde in diesem
Kontext verständlicherweise vermieden). Er machte uns auf sehr viele Dinge aufmerksam und
erzählte viele bemerkenswerte Geschichten. Beispielsweise fand in einer nicht mehr vorhandenen
Bunkeranlage der wohl bekannteste aller Beseitigungsversuche Hitlers statt: das Attentat vom 20.
Juli, ausgeführt durch Stauffenberg während einer Besprechung. Auf einer Hinweistafel war
angegeben, wie die Sitzordnung zum Zeitpunkt der Zündung der in einem Koffer versteckten Bombe
war. Nach Erläuterung dieser Ordnung war er ein paar Tage zuvor von einer deutschen, 85-jährigen
Besucherin gefragt worden, wo er denn zum Zeitpunkt des Attentats auf diesem Bild gestanden
hätte. Der polnische Reisebegleiter war verständlicherweise vollkommen sprachlos. Hatte die Frau
gescherzt oder es ernst gemeint? Als er antwortete, dass er nur ein ganz kleines Licht gewesen sei
und deswegen nicht mit auf der Sitzordnung verzeichnet gewesen sei und auch ganz weit von der
Explosion entfernt gestanden hätte, war das Mütterchen auf ihn zugekommen, umarmte ihn und
sagte: „so ein Glück“. Die Frau des Reisebegleiters meinte nach Erzählen dieser Anekdote lapidar, das
Großmütterchen müsse ihn wohl für 150 Jahre alt gehalten haben.

Verrückte Welt.

Noch ein paar Facts. Ursprünglich wollte Hitler nur einige Wochen in der Bunkeranlage verbringen.
Schließlich sollte die Eroberung Russlands nur sechs Wochen in Anspruch nehmen. Schließlich blieb
die Wehrmacht bis Januar 1945 in der Anlage und sprengte sie dann selbst mit über tausend Tonnen
TNT.

(Bilder - wie so haufig - fast alle von Kais Kamera)


Die Natur erobert sich das Gebiet zurück


nach der Sprengung klafft ein riesiger Riss im Bunker


Der Name Wolfsschanze wurde übrigens von Hitler selbst geprägt, der im näheren Freundes- und
Bekanntenkreis Wolf genannt wurde, was sich irgendwie etymologisch von Adolf ableiten lässt.
Fazit – kein See, aber dafür eine geballte Ladung Geschichte. Hat sich gelohnt. Wer mal in den
Masuren Urlaub machen sollte, kann sich das getrost mal anschauen.

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